Virtuelle Natur
tl;dr
Ich bin gerade dabei, einen Aufsatz über die Implikationen von Natur und Kultur in virtuellen Umgebungen vorzubereiten. Deswegen hat es mich mal interessiert, wie so der Status Quo von Naturdarstellungen in Virtual Reality ist. Mir erscheint das insofern wichtig, weil wir immer eine Szenerie oder Umfeld brauchen, in dem sich die VR-Anwendung abspielt. Sehr häufig ist das eben eine mehr oder minder realistische Replikation der physikalischen Natur. Schon allein aus diesem Grund müssen wir als Content-Creators überlegen, wie diese Szenerie ausgestaltet werden soll.
Die folgenden Links haben sich in den Tagen der Recherche angesammelt. Ich teile sie hier, weil sie entweder besonders ikonisch für eine bestimmte Entwicklung innerhalb der VR-Community stehen, weil sie technisch oder ästhetisch interessant sind oder schlichtweg, wenn ich mit ihnen so genau gar nichts anfangen konnte. Selbstverständlich ist die Liste vollkommen subjektiv und unvollständig. Wenn ihr noch Anregungen habt, was unbedingt mit aufgenommen werden soll, dann schickt mir eine Mail!
Ich teile den Post hier in verschiedene Kategorien auf, die sich aus den technischen Gegebenheiten ergeben.
360° Video (Kamera)
Obama
Spätestens als Obama im August 2016 seine guided tour durch den Yosemite Park veröffentlichte, war 360 Grad Video in aller Munde. https://obamawhitehouse.archives.gov/blog/2016/08/25/watch-join-president-obama-virtual-reality-tour-yosemite
Die Inhalte der Obama-Tour finde ich insofern interessant, weil sie dem Rezipienten durch den Protagonisten (=Obama) automatisch die Aufmerksamkeitsorientierung vereinfachen. Das Hosting auf Facebook hat wahrscheinlich deutlich zu der Popularität beigetragen, finde ich allerdings persönlich etwas ungeeignet für ein längerfristiges Archiv.
Visit Sweden
Interessanterweise ist der große Hype in Richtung Tourismusmarketing mittels 360 Grad-Video bisher ausgeblieben. Ein Projekt des Landes Schweden aus Mitte 2017 lässt sich finden. Die Aufrufzahlen der eingebetteten YouTube-Videos sind aber eher marginal. Die Inhalte sprechen mich optisch allerdings an und sind mit etwas Augenzwinkern produziert (wer findet den Elch in den Videos?). https://visitsweden.com/sweden-vr-films/
einmaliges Projekt, 3 Videos à ca. 2 Minuten. Je Video ca. 10.000 Views // Mitte 2017
Conservation International
NGOs haben 360 Grad Film auch für sich entdeckt, um durch die erhöhte Immersion der Rezipienten auch ein erhöhtes Maß an Problembewusstsein triggern wollen. Persönlich fand ich Experimente von Conservation International (Anfang 2017) ziemlich interessant. Sind alle auf YouTube zu finden:
Valen’s Reef
Under the Canopy
My Africa
Ecotherapie
Im Kontext von 360° Video kommen auch immer wieder Anwendungen ins Gespräch, die ich jetzt als «Ecotherapie» zusammenfasse. Grundsätzliche Idee ist, Patienten in angstevozierenden Situationen (Schmerz, Stress, PTBS, ….) ein nicht-medikamentöses Hilfsmittel zur Entspannung anzubieten. Einer der Anbieter ist beispielsweise InviroVR, der seine Videos auf Vimeo hostet. Zur Zeit sind etwas über hundert Videos online, die recht aufwendig produziert sind und durchaus mit ansprechendem Content aus freier Wildbahn punkten können. Die Viewcounts auf vimeo sind allerdings vernachlässigbar.
Weitere Anbieter in diesem Business sind:
Die aktuelle Referenz der Inhalte, die im weitesten Sinne mit einer 360°-Kamera produziert wurden, ist die Experience Tree Hugger VR von Marshmellowlaserfeast, die auf ihrer Webseite ziemlich viel Beeindruckendes auffahren.
Weiter unten habe ich unter «Installation» das Exponat ITEOTA verlinkt. Allen Arbeiten ist gemein, dass sie sich nicht mehr auf reine Oberflächen von 3D Körpern verlassen, sondern sehr viel mit Punktwolken arbeiten, die zumindest visuell deutlich mehr den Eindruck von Volumenkörpern kommunizieren.
(Persönlich bin ich übrigens der Meinung, dass Volume Modelling DER nächste heiße Scheiß in der XR-Welt sein wird. Mit Volumenkörpern lösen wir nicht nur das Problem des Clippings innerhalb virtueller Welten, sondern können gleichzeitig mit einer deutlich divergenten Ästhetik aufwarten, die sich vom altbekannten (pseudo-)3D-Realismus und LowPoly abgrenzen kann. Dazu aber mehr in einem zukünftigen Blogpost.)
Bis jetzt haben wir uns im weitesten Sinne darüber unterhalten, wie sich die «echte» (=physikalische) Natur in VR bringen lässt. Wesentlich interessanter (zumindest für mich) ist, wie 100% virtuelle Natur in VR gestaltet/entwickelt/designed werden kann.
360° Video (Animation)
Das ZDF experimentiert schon länger mit VR-Produktionen im Kontext von Dokumentationen. In Richtung synthetischer Natur ist mir besonders Vulkane360 aufgefallen
Nett finde ich die Idee, das Senderlogo im Nadir (wenn der VR-Nutzer senkrecht nach unten sieht) einzublenden, der bei 360°-Echtfilmproduktionen durch die Kameraposition oft zu Problemen führt. Wesentlich spannender ist, wie sie eine Problematik adressieren, die alle 360° Erklärfilme betrifft: Letztendlich gibt es nur einen eher beschränkten Bereich, in dem das zu untersuchende/zu erklärende Objekt befindet. Das heißt, effektiv werden nur etwa 90° von den theoretisch vorhandenen 360° genutzt.
Setzt man den Nutzer jetzt genau IN das Geschehen, dann artikuliert man zwar stark die Atmosphäre/das Gefühl wirklich im Epizentrum zu stehen, riskiert allerdings, dass der Rezipient vollkommen die Übersicht verliert und nicht einschätzen kann, wo er jetzt sein Sichtfeld (und seine Aufmerksamkeit) hin richten soll. Sitzt der Rezipient außerhalb, dann sollte er die Möglichkeit haben, sich in voller 360°-Manier drehen zu können. Hinter ihm sollte also im Idealfall auch irgendwas passieren, ohne dass dieses Irgendwas von der Haupthandlung zu sehr ablenkt.
In der ZDF Produktion haben sie das sehr schön mit den Asche- und Staubsimulationen (Beispiel: Minute: 2.30) geschafft. Der Nutzer ist also Teil des Geschehens, verliert aber nicht den Überblick und kann sich umsehen ohne enttäuscht oder überfordert zu werden. Persönlich hätte ich mir allerdings noch etwas mehr spatial Audio gewünscht.
Experience
Irgendwo zwischen linearen Film und interaktiven Game finden sich einige Anwendungen, die sich in Richtung «Interaktiver Meditation» bewegen. Die Interaktionskomponenten beschränken sich daher auf eher rudimentäre Gesten, das Hauptziel ist, den Nutzern eine Experience zu bieten.
Nature Trecks VR
- https://www.oculus.com/experiences/go/1723271804396968/ Plattform: Oculus Go, Gear VR // 7,99 EUR
- https://store.steampowered.com/app/587580/Nature_Treks_VR/ Plattform: Valve Index, HTC VIVE, Oculus Rift, Windows Mixed Reality // 9,99 EUR
Magic Horizons
Wer auf esoterischen Kitsch steht, sollte sich unbedingt auch mal Magic Horizons ansehen. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich den Job des 3D-Modelers in dieser Produktion auch sehr gerne gehabt hätte.
Spannend finde ich bei Magic Horizons, dass sie sich trauen, sehr weit von althergebrachten Naturdarstellungen abzuweichen. Dass das jetzt eher in den visuellen Kitsch abdriftet, ist ein wenig schade. Ich glaube, gerade in diese Richtung sollten wir noch etwas Forschungsaufwand stecken, damit wir nicht nur nachahmen, sondern aktiv gestalten.
Installation
VR in ordentliche Inszenierungen zu packen, reichert das Erlebnis massiv für die Rezipienten an. https://www.inside-tumucumaque.com/
Die Leute, die schon das weiter oben angesprochene TreehuggerVR gebaut haben, haben mit ITEOTA – In the Eyes of the Animal nochmal eine gute Schippe draufgesetzt. Möglich ist die Ästhetik, weil sie mit LIDAR-Scans. die Umgebung dreidimensional aufnehmen konnten. Die Darstellung erfolgt dann mittels Punktwolken. Inszeniert wurde das Erlebnis dann innerhalb des Waldes. Das Making-Of-Video lohnt!
- Teaser: https://vimeo.com/173421112
- Behind the scenes: https://vimeo.com/174734638
- Webseite: https://www.iteota.com
Immer wieder bei den Recherchen bin ich über die sperrige Installation hier gestolpert: https://www.dezeen.com/2019/04/04/virtual-reality-installations-invisible-landscapes-royal-academy/ Leider ist das Ding so dermaßen schlecht dokumentiert, dass mir als Außenstehenden nicht so wirklich klar wurde, welches Konzept die Künstler bei dieser Arbeit verfolgt haben.
Paper
Interdisziplinär: Landschaftsarchitektur in VR
In ihrer Masterthesis hat sich Landschaftsarchitektin Laura Vallo mit einem A/B-Test beschäftigt, indem sie ihre Probanden durch verschiedene Umgebungen/Gartenanalagen führte. Dieser interdisziplinäre Ansatz macht den Reiz der Studie aus. Als Engine hat sie Unreal verwendet. Zum Terraforming kam die WorldMachine zum Einsatz.
Stress recovery by exposure to nature in virtual reality by Laura Vallo https://krex.k-state.edu/dspace/handle/2097/35527 (Volltext)
Leider krankt die Studie ein bisschen an der verwendeten Hardware. Auf Seite 64 schreibt Vallo darüber, dass viele Probanden Probleme mit Motion Sickness hatten. Dieses Unwohlsein wurde – so vermutet die Autorin – wohl durch die Framedrops und generell schlechte Framerate verursacht, die opulenten Umgebungen mit sich brachten. Die Ergebnisse sind daher mitunter verfälscht, persönlich werde ich allerdings auf jeden Fall im Hinterkopf behalten, dass ich mittelfristig ein Projekt mit einem Landschaftsarchitekten durchführen will.
Stressabbau durch Natur in VR
Virtual Reality for Persistent Pain: A New Direction for Behavioral Pain Management
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3472118/ «For cheap and easy access to VR experiences, you can simply visit YouTube and search its massive library of free VR content,» Spiegel says. «If you want a virtual trip to the beach, type ‘VR beach’ into the YouTube search engine. Or ‘VR forest.’ It’s all there for the taking.»
The effect of contact with natural environments on positive and negative affect: A meta-analysis
Gerade wenn sich bereits einige Anbieter auf dem Markt finden, die Umgebungen zum Stressabbau verkaufen ist dieses Paper sehr interessant. In einer Meta-Analyse von 32 Studien wird konstatiert, dass es ausreichend sei, Natur in VR zu simulieren, um die psychischen Benefits von Naturexposition zu bekommen. Das Paper ist leider Closed Source: https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/17439760.2014.994224 Eine Zusammenfassung der Studie findet sich hier: https://theconversation.com/we-know-contact-with-nature-makes-you-feel-better-can-virtual-contact-do-the-same-111752
Experiencing Nature through Immersive Virtual Environments: Environmental Perceptions, Physical Engagement, and Affective Responses during a Simulated Nature Walk
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5787081/ (Volltext)
Restorative Effects of Virtual Nature Settings
https://www.researchgate.net/publication/47447505_Restorative_Effects_of_Virtual_Nature_Settings (Volltext) N = 22.
Scripting vs. Emergenz
Scripting Versus Emergence: Issues for Game Developers and Players in Game Environment Design generelle Unterscheidung: Scripting vs. Emergenz https://eprints.qut.edu.au/46349/1/Sweetser_IJIGS.pdf
Game
http://www.theclimbgame.com/ (Honourable Mention)
Beeindruckende Szenerie innerhalb des Settings // Cryengine Plattform: Oculus